Mein Blick auf Nairs
Etwas ganz Neues – sieben Wochen in Nairs
Oktober 2020
Unsere Praktikantin Claudia, 59, Lehrerin erzählt in diesem Text über ihren Blick auf Nairs und ihren sieben-wöchigen Aufenthalt.
Versteckt liegt es, Nairs am Inn, ganz nahe am Wasser, am Hang, zwischen den Bäumen – etwas vergessen an der ehemaligen Verbindungsstrasse nach Vulpera Tarasp.
An meinem Ankunftstag Ende August 2020 regnet es Bindfäden, der Inn ist reissend und grau. Das grüne Dach des alten Badehauses leuchtet beinahe in der dunklen Umgebung. Ich bin zu Fuss unterwegs, von Vulpera nach Nairs – finde meinen Idealweg dorthin über die grosse neue Verbindungsbrücke, runter durch den Wald zum Stradun, dann auf die Zufahrtsrampe zum Atelierhaus. Es gäbe mehrere Wege, die wenigsten sind begehbar.
Am zweiten Tag scheint die Sonne, das tut sie in den sieben Wochen oft, ein goldener Spätsommer. Ich betrete das Haus, es empfängt mich mit Blumen und Bildern und seinem unverkennbar angenehmen Geruch.
Ich bewege mich ab jetzt drei bis vier Tage die Woche an diesen einzigartigen Ort, meine Arbeit lässt mich die Speisekammer für die anwesenden Künstler*innen füllen, aber auch Exceltabellen und Apéro-Teller, Bücherregale, Briefkästen und Ordnerkisten.
Ich darf das Atelierhaus auf eine bunte besondere Art erleben, wir bereichern uns gegenseitig, das Haus, die Menschen dort und ich.
Jeden Tag mache ich Fotos auf meinem Weg über die Brücke, vom Fluss, der nun grünblau schimmert, von der wunderschönen – von Steinschlag gefährdeten – alten Trinkhalle, vom verwunschenen englischen Park zwischen dem ehemaligen Kurhotel Tarasp und seinem Badehaus. Aber vor allem von diesem Gebäude selber, von den Lichtspielen drinnen und draussen.
Nairs bedeutet „die Schwärzen“, Licht und Schatten spielen tatsächlich eine grosse Rolle hier – der Ort selber aber ist farbig und luftig leicht für mich, auch bei grauem Himmel oder in der Dämmerung. Die Farbigkeit kommt vom Inn, den umstehenden Bäumen, den Blumen in Vasen und auf der Wiese, von Büchern, Bildern und Plakaten, auch von den Früchten und dem Gemüse in den Regalen. Am meisten aber von den Menschen hier im Haus, dem kleinen Team, das den Betrieb am Laufen hält, von den Künstler*innen, die hier für einige Monate leben und arbeiten – mit dem Spiel von Licht und Dunkel, mit Formen und Farben, Wörtern und Klängen.
Vielleicht hat auch die lange Geschichte des ehemaligen Badehauses ihre Farben hinterlassen – eine alte Heilbad-Wanne in einem der Ateliers, die gekachelten Schränke in den Fluren ( wurden hier die Schläuche zum Füllen der Wannen aufbewahrt?), die kleinen Lampen auf den Wegen in den verwilderten Park, der zugewachsene Tennisplatz hinter den Büschen, die alten Mäuerchen ums Haus herum.
Die Umwandlung des Badehauses in ein Atelierhaus ist ein Glücksfall, auch dieser Prozess ist spürbar, die ständige Weiterentwicklung ebenso.
Ich bin nicht als Künstlerin in diesem Haus, sondern als Primarlehrerin während eines Sabbaticals. Egal in welcher Funktion die Menschen herkommen, mit welchen Zielen oder Motivationen oder für wie lange – hier finden sie Raum für Inspiration und neue Gedanken.
Mitte Oktober ist mein letzter Arbeitstag. Auf dem inzwischen sehr vertrauten Weg über die Brücke sehe ich Nairs von oben, leicht angeschneite Bäume, viel dunkles Grün, dazwischen leuchtend gelb-rotes Laub, der blaue Inn und, versteckt wie ein Schatz, das hellgrüne Dach der Fundaziun Nairs – es sind die farbigsten Schwärzen, die ich kenne.
Das beinahe Klösterliche hier, kombiniert mit Natur- und Kunsterleben, das gemeinsame Engagement und die Leidenschaft für diesen Ort, ich werde das alles mit mir nehmen, aber auch vermissen und bestimmt wieder bei meinem nächsten Besuch hier finden.
A revair, Nairs, grazcha fich
Claudia